Nachruf über Walter Wolfrum von Peter Cronauer

Liebe Frau Wolfrum, – liebe Angehörige und Freunde, – liebe Trauergemeinschaft

Vor neun Jahren bin ich Walter Wolfrum zum ersten Mal begegnet – und manche von Ihnen werden sich fragen, – warum nun ausgerechnet ich hier stehe und das Wort ergreife.

Ich wurde sein Biograph.

Im übertragenen Sinne hakten wir einander unter – und er nahm mich mit auf eine lange Reise durch sein Leben. – Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt. – Aus der Gegenwart in die Vergangenheit, – aus der Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Ära, als sich Ost und West noch scheinbar unvereinbar gegenüber standen, – hinein in den Zweiten Weltkrieg – der ihn und sein damals noch junges Leben so gnadenlos prägte – bis zuletzt. – Und wir setzten unsere Reise fort – in seine Jugend, in die Weimarer Republik, – bis zu den frühesten Erinnerungen seiner Kindheit.

Anschließend kehrten wir wieder zurück – Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt. – Darüber kamen wir uns sehr nahe – und ich meine, ich darf mit Fug und Recht behaupten, – ich habe ihn gekannt.

Stundenlang könnte ich von seinen jeweiligen Lebensphasen erzählen. – Von seinen Kindertagen in Oberfranken, – seinem Elternhaus, – vom Schüler Walter Wolfrum, – seiner Jugend – in einer Diktatur, in der er keine Stimme hatte, die ihn nicht wahrnahm, – die ihn aber in einen Krieg führte, in dem für ihn eher der Tod als das Leben vorgesehen war.

Ich könnte von dem Jagdflieger Walter Wolfrum erzählen, – von der Verantwortung, die er schon in seinen Jugendjahren für das Überleben Gleichaltriger zu tragen hatte – von Tod und Verderben an der Ostfront – und von den Verheerungen, die solche Erfahrungen in einer jungen Seele anrichten. – Im zarten Alter von 21 Jahren hatte er bereits mehr über das Leben, den Tod, und die Menschen erfahren, – als vielen von uns lieb sein kann. – Wie unbeschwert durfte ich in diesem Alter sein. – Ich könnte von Walter Wolfrums Gefangenschaft berichten – von seinem Weg in ein ziviles Leben. – Von der ersten Frau an seiner Seite, Irene Rühl, genannt „Quex“, seiner ersten großen Liebe – gemeinsam haben die beiden vier Töchter. – Auch der Unternehmer Walter Wolfrum wäre eine Rede wert – Blattgold und Prägefolie. – Und dann ist da noch die zentrale Leidenschaft in seinem Leben, – das Fliegen – der Kunstflug. – Als Aktiver wurde er Deutscher Meister – unter ihm als Trainer war die deutsche Kunstflugnationalmannschaft so erfolgreich wie nie zuvor – und seither nicht mehr. – Sein bester Schüler, Manfred Strößenreuther, ist selbst jungen Nachwuchspiloten von heute noch ein Begriff. – Und ich könnte von der zweiten großen Liebe seines Lebens erzählen, Monika Wolfrum, – seit 22 Jahren die Frau an seiner Seite – bis zuletzt.

Ich weiß nicht, wo ich anfangen sollte – und dabei habe ich noch nicht einmal alles erwähnt. – Aber jetzt, – in diesem Augenblick, – sehe ich ihn vor mir. Seinen Blick, – die blauen Augen – ein gewisses Schmunzeln im Gesicht, dessen vielsagende Nuancen nur diejenigen richtig zu deuten vermochten, die ihn wirklich kannten – und ich höre ihn sagen. – „Jetzt ist aber gut, es reicht.“

Er war kein Freund großer Worte – er war auch kein Freund vieler Worte – er konnte schweigen. – Denn dieser stattliche Mann barg in seinem Inneren ein ganzes Universum. – Zusammengesetzt aus unzähligen kleinen und größeren Mosaiksteinen – jeder einzelne erzählte seine eigene Geschichte – und zusammengenommen spiegelten sie all das wieder, was es im Leben eines Menschen geben kann. – Unglück und Leid – Enttäuschungen und Schmerz – Niederlagen und Erfolge – aber auch Freundschaft, – Liebe, – und unfassbares Glück. – Mögen andere, die nur eine Handvoll solcher oder ähnlicher Mosaiksteine in ihren Herzen tragen, daraus eine abendfüllende Veranstaltung machen. – Walter Wolfrum brauchte die große Bühne nicht. – Er war vielmehr ein Mann der leisen Töne, – in sich gekehrt, – sich selbst hielt er gar nicht für so wichtig.

Dass ich hier stünde und sein Leben erzählte, wäre ihm nicht recht – aus seiner Sicht wäre das doch gar nicht nötig.

Stattdessen möchte ich laut darüber nachdenken, warum er nun gegangen ist. – Es ist nicht selbstverständlich, im Alter von 87 Jahren zu Hause zu leben, – die geliebte Frau an seiner Seite, – mitten im Leben zu stehen, – zumindest von außen betrachtet, – nicht am Hungertuch nagen zu müssen, – und im Rahmen der Möglichkeiten tun und lassen zu können, was einem beliebt. – Doch gerade diese Möglichkeiten wurden immer weniger. – In seinem zuletzt 87 Jahre alten Körper lebte ein zeitloser Geist. – Walter Wolfrum war ein stiller Mann, – aber er konnte auch albern sein, wie ein unbekümmerter Zwanzigjähriger – er konnte energisch, schlagfertig und scharfzüngig sein, wie ein lebenserfahrener Mittfünfziger in Höchstform – und er konnte Pläne haben und Ideen, wie ein junger Mensch, der noch sein ganzes Leben vor sich hat. – Und zugleich war er so weise, – als wäre er schon immer hier gewesen, – als wäre er unsterblich.

Hätte er noch so gekonnt, wie er wollte, dann wären wir nicht stundenlang auf dem Sofa nebeneinander gesessen. – Wir wären hinausgefahren, – zum Flugplatz, – hätten Rollenkreis geübt, – wir hätten den Weißkogel bestiegen, – oder uns im Winter auf Skiern die Streif hinabgestürzt. – Die wirklich wichtigen Worte kann man auch dabei wechseln. – Die traurigsten Momente waren für mich immer diejenigen, wenn er sich – geistig gerade in voller Fahrt – wieder einmal bewusst wurde, dass sein Körper nun einmal kein Mittvierziger mehr war. – Dann verfiel er jedes Mal in Schweigen. –

Seit 1998 durfte er nicht mehr fliegen, – sein Körper machte ihm einen ersten dicken Strich durch seine Rechnung. – Und nach und nach brach auch alles andere weg, – Bergsteigen, – Tennis spielen, – Motorradfahren … – Zuletzt spielte er Golf. – Und die Golfer unter Ihnen mögen es mir bitte nachsehen, – aber der Walter Wolfrum der früheren Jahrzehnte hatte Golfen nicht einmal als Sportart anerkannt. – Doch er sagte mir, es tue ihm gut, – die Bewegung, – das Gehen über das Green, – die Begegnungen mit anderen. – Und auch hier wollte er etwas erreichen, – doch sein Körper ließ das kaum mehr zu. – Vehement kämpfte er gegen den Caddy an, – er wollte auf seinen eigenen Beinen stehen – und wusste doch im gleichen Augenblick, dass er diesen Kampf nicht mehr gewinnen kann. – Früher oder später. – Seine leibliche Hülle erlaubte ihm immer weniger, – und womöglich empfand er sich in seinen Körper zunehmend gefangen, – Walter Wolfrum war kein Mann, der seinen Lebensabend im Lehnstuhl vor dem Fernseher verbringt.

Er war ein selbstbestimmter Charakter, – ein freier Geist, – er war dann in seinem Element, wenn er allein in seinem Flugzeug saß. – Dann hatte er es in der Hand, – er allein trug die Verantwortung, – und niemand sonst. – Welche Perspektive bot sich ihm zuletzt? – Ein langsames Verdämmern? – Irgendwann sogar auf fremde Hilfe angewiesen zu sein? – Das war nicht mehr sein Leben. – Trotz der geliebten Frau an seiner Seite.

Und noch etwas fehlte ihm. – Sein Freund aus Kindertagen, Rolf Birkel, war bereits im Krieg gefallen. – So wie viele andere, die ihm damals wichtig waren. – Und doch entstanden gerade in dieser Zeit auch neue Freundschaften, – zusammengeschweißt durch die gemeinsame Erfahrung eines Krieges, – dessen Dimensionen – und Auswirkungen auf jeden einzelnen – wir Jüngeren bestenfalls erahnen können. – Friedrich Obleser, Peter Düttmann, Heinz Ewald, Victor Petermann, – und andere, – sie wurden lebenslange Freunde. – Und gingen in den letzten Jahren. – Einer nach dem anderen. – Zuletzt auch Günther Rall. – Schon vor drei Jahren sagte Walter Wolfrum zu mir: „Manchmal fühle ich mich ein wenig einsam, irgendwie bin ich übrig geblieben.“

Selbst aus seiner Zeit als Wettbewerbspilot ist heute keiner mehr am Leben. – Vor anderthalb Jahren verstarb Herbert Greb, – und auch von denen, die bereits jüngeren Generationen angehörten, und ihm in seiner Zeit als Trainer wichtig wurden, verunglückten die meisten bereits vor langer Zeit. – Tödlich. – Kurt Patzig, – Norbert Holzberger, – Manfred Strößenreuther, – um nur einige zu nennen. – Sie alle, – vor allem seine lebenslangen Freunde, – fehlten Walter Wolfrum.

Als im vergangenen November sein Buch, seine Biografie, erschien, war dies für ihn nochmals ein Höhepunkt. Mit einem Mal war alles wieder da, – noch einmal glühte sein inneres Universum auf, – erstrahlte in allen Farben, – und dann war es für ihn an der Zeit zu gehen. – Aus unserer Sicht natürlich viel zu früh.

Wenn wir miteinander telefonierten, endeten unsere Gespräche von seiner Seite häufig mit dem Satz, „Ich höre wieder von Ihnen. Bald. Ja?“ – Jetzt könnte er sagen: „Sie melden sich bitte gelegentlich bei meiner Frau.“ – Das aber ist so selbstverständlich, dass er es nicht zu sagen braucht.

Es heißt, niemand ist tot, solange man sich an ihn erinnert. Für mich persönlich war die Begegnung mit ihm ein großes Geschenk. –

Danke, Walter Wolfrum.

Und nun sehe ich ihn neben mir, – seine Stimme klingt um eine Nuance energischer.

“Jetzt ist aber gut, es langt jetzt wirklich!”

Er winkt zum Abschied.

Peter Cronauer

Geschwader-Marsch
Me 109